Um introvertierte oder allgemein eher ruhigere, sensible Menschen ranken sich viele Mythen und Missverständnisse, die einen im Alltag manchmal verzweifeln lassen. Wir nehmen heute die hartnäckigsten Vorteile auseinander. Außerdem sprechen wir darüber, wie wir damit umgehen, wenn wir uns in unserer Persönlichkeit missverstanden oder nicht ernst genommen fühlen.
Darum geht es in dieser Still & Stark Folge 60:
❌ Die 5 hartnäckigsten Vorurteile um Introvertierte
🧠 Das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeitspsychologie
🤝 Anderen helfen, Introvertierte besser zu verstehen
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Die Highlights aus Folge 60: Diese 5 Vorurteile kennen alle Introvertierten
Vorurteil 1: Introvertierte sind schüchtern.
❌ Warum dieser Mythos verbreitet ist:
Weil man es von außen kaum richtig unterscheiden kann, warum eine Person so ruhig rüberkommt: Ist die Person besorgt, wie sie auf andere wirkt und traut sich nicht, etwas zu sagen (= schüchtern)? Verhält sich die Person ruhig, weil sie gerade lieber zuhört und beobachtet (= introvertiert)?
✅ Richtig ist: Einige Introvertierte sind schüchtern. Aber längst nicht alle.
Schüchternheit und Introversion sind zwei Persönlichkeitsmerkmale, die unterschiedlichen Ursprungs sind. Das introvertierte Temperament ist ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal. Bei Schüchternheit hingegen handelt es sich um eine antrainierte soziale Angst. Auch extrovertierte Menschen können schüchtern sein, ergo: unter sozialen Ängsten leiden und sich darum gehemmt verhalten.
👉 Tipp: Siehe dazu die Erklärung unter der Überschrift „Das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeitspsychologie“.
Vorurteil 2: Introvertierte sind unsozial und arrogant.
❌ Warum dieser Mythos verbreitet ist:
Weil einige Introvertierte große Geselligkeiten als unangenehm empfinden. Sie neigen u.a. dazu, Small Talk zu meiden. Stattdessen stehen sie lieber in einer kleineren Gesprächsrunde abseits. Dieses Verhalten wird von außen argwöhnisch betrachtet: „Sind wir keine angenehme Gesellschaft? Langweilen die sich mit uns? Warum haben die keinen Spaß? Mögen die uns nicht?“
✅ Richtig ist: Introvertierte lieben Menschen, aber keine Menschenmassen.
Wer eine ruhige Person immer in ein- und demselben Setting beobachtet – zum Beispiel wenn viele Menschen auf einem Haufen sind wie bei Events oder Meetings – kann (vor-) schnell zu dem Schluss kommen, dass die Person irgendwie „zu ruhig“ ist, also irgendwas nicht stimmt.
Fakt ist jedoch, Introvertierte interessieren sich sehr für ihre Mitmenschen und ihr Umfeld. Viele arbeiten in Berufen, in denen sie viel Kontakt zu anderen haben, zum Beispiel im sozialen Bereich oder in Lehrberufen.
Ihr Nervensystem unterscheidet sich jedoch von dem extrovertierter Personen. Gehen wir davon aus, dass jeder Mensch ein individuelles Wohlfühllevel hat. Auf körperlicher Ebene ist dafür u.a. unser Dopaminspiegel verantwortlich. Ein Mensch mit introvertierten Merkmalen benötigt weniger Dopamin, um sich gut zu fühlen. Selbst ruhige Aktivitäten schütten bereits Dopamin aus. Ein introvertierter Mensch ist mit einem guten Buch oder einem schönen Eins-zu-Eins-Gespräch vielleicht schon happy. Eine extrovertierte Person hingegen mag sich davon nicht ausreichend stimuliert fühlen.
Wir leben in einer Welt, die ständig für Reizüberflutung sorgt. Da ist es gerade für Introvertierte ein täglicher Kampf, gut mit den eigenen Kräften zu haushalten. Und ja, das kann in der Praxis zum Beispiel bedeuten, dass man am Wochenende eben nicht mehr unbedingt die Kraft hat, noch mehr Energie für Geselligkeiten aufzubringen.
Vorurteil 3: Wer still ist, hat nichts zu sagen.
❌ Warum dieser Mythos verbreitet ist:
In unserer westlichen Welt gilt meist: Wer am lautesten schreit, hat Recht. Und wer viel redet, muss besonders schlau sein. Der Umkehrschluss legt also nahe, dass die Ruhigen wohl eher einfältig sei müssen.
✅ Richtig ist: Introvertierte haben eine Menge zu sagen.
Introvertierte sind intelligent, kreativ und tiefsinnig. Man muss sich aber auch mal die Zeit nehmen, einen Menschen richtig kennenzulernen, statt es sich leicht zu machen und nur zu beurteilen, was man sieht. Introvertierte können sprudeln wie ein Wasserfall, wenn man sie richtig kennenlernt. Und wenn wir mal ehrlich sind: Man kann Menschen ohnehin nicht gut kennenlernen, wenn man sie immer nur in einer großen Menge antrifft.
Viele bevorzugen Eins-zu-Eins-Interaktionen, bei denen sie ihre Aufmerksamkeit auf eine Person richten und sie wirklich kennenlernen können. Diese Eigenschaft sollten wir wertschätzen und als etwas Positives wahrnehmen. Wann nimmt sich heute noch wirklich jemand die Zeit, um anderen Raum zu geben und ihnen zuzuhören?
Warum der Einfallsreichtum von Introvertierten häufig übersehen wird, liegt zu einem gewissen Teil auch an unserer Kultur. Studien haben in der Tat belegt, dass in unserer westlich geprägten Gesellschaft Menschen, die viel reden, als besonders intelligent wahrgenommen werden. Dass Quantität beim Reden offenbar wichtiger ist als die Qualität, erklärt, warum gerade mal mittelmäßige Ideen häufig Zuspruch bekommen. Ungerecht, nicht wahr? Doch das ist auch das Ergebnis dessen, dass ruhige Menschen anderen im falschen Moment das Feld überlassen statt ihre eigenen Ideen auf den Tisch zu bringen.
Vorurteil 4: Introvertierte sind einsam.
❌ Warum dieser Mythos verbreitet ist:
Alleinsein wird oft mit Einsamkeit verwechselt. Innerer Rückzug findet in unserer chaotischen Welt kaum noch Platz, obwohl jeder Mensch – egal ob introvertiert oder extrovertiert – diese Auszeiten zum Reflektieren benötigt.
✅ Richtig ist: Alleinsein und Einsamkeit sind zwei komplett verschiedene Dinge. Introvertierte verbringen ab und zu gern Zeit allein, um sich ihrer Gefühlswelt zu widmen und ihre Akkus aufzuladen. Auch das Bedürfnis, Zeit für sich selbst zu bekommen, ist von Mensch zu Mensch sehr individuell. Es gibt nicht „die Introvertierten“, genauso wenig wie es „die Extrovertierten“. Bei der Darstellung dieser Persönlichkeitsmerkmale handelt es sich vielmehr um ein riesiges Spektrum, auf dem sich jedes Individuum bewegt.
Fakt ist: Man kann sich auch unter vielen Menschen sehr einsam fühlen. Nämlich dann, wenn man übersehen wird, nicht als die Person angenommen wird, die man wirklich ist – oder sich für andere verstellt. Auch dafür ist die Zeit allein sehr wichtig: Um sich darüber klar zu werden, wer man wirklich ist und wie man seinen Platz findet.
Vorurteil 5: Introvertierte sind unglücklich.
❌ Warum dieser Mythos verbreitet ist:
Die Grundannahme vieler Menschen ist: Man muss immer gut drauf sein und gute Laune versprühen, um glücklich zu sein. Manche Introvertierte neigen dazu, sich nicht viel Emotion anmerken zu lassen. Timon wurde schon so vieles vorgeworfen: Er wirke unbeteiligt, arrogant oder gelangweilt. Lediglich aufgrund der Tatsache, dass er nicht so viel Mimik zeigt, wie andere es erwarten würden. Viele Menschen missdeuten das als deprimiertes Verhalten, Traurigkeit oder schlechte Laune und glauben, sie müssten einen aufheitern – oder noch schlimmer, zurechtweisen:
„Guck nicht so ernst!“
„Sei kein:e Langweiler:in!“
„Niemand mag eine Spaßbremse!“
„Lach doch mal!“
„Sicher, dass wirklich alles okay bei dir ist?“
Wer kennt solche Sätze nicht? – Schreib uns gern in die Kommentare, welches Vorurteil du am häufigsten hörst!
✅ Richtig ist: Zufriedenheit lässt sich nicht allein am Gesicht ablesen. Jeder drückt positive Emotionen anders aus.
Die unausgesprochene Annahme, jemand sei unglücklich, nur weil sie:er häufig ernst dreinschaut, halten Timon und ich für besonders gefährlich. Hier kommt der Begriff Toxische Positivität ins Spiel. Dieser Begriff meint die Bestrebung, möglichst immer gut drauf zu sein und zwanghaft in allem das Gute zu sehen. Es gilt die Devise „positive vibes only“, negative Vibes müssen bitte draußen bleiben. Natürlich ist eine positive Lebenseinstellung wichtig für unsere emotionale und physische Gesundheit. Doch es gibt auch ein zu viel davon. Nämlich dann, wenn alle anderen Gefühle keinen Platz mehr bekommen und das Umfeld scheinbar erwartet, dass man ständig der Sonnenschein in Person ist.
Einige introvertierte Menschen wirken sehr ernst. Das kann viele unterschiedliche Gründe haben: Entweder sind sie in Gedanken, sie fühlen sich reizüberflutet oder sie zeigen generell nicht so viel Mimik, fühlen sich aber absolut wohl in ihrer Haut. Auch hier zeigt sich wieder, wie falsch man liegen kann, wenn man stets von seinem eigenen Empfinden ausgeht.
Vorurteile beseitigen – das hilft:
👉 Selbst offener zu werden und sich mitzuteilen ist wichtig, um nicht ständig in eine Schublade gestopft zu werden. Das heißt keineswegs, dass man sich verstellen soll und munter drauflos plappert, obwohl einem nicht danach ist. Aber es ist wichtig und wertvoll, Respekt und Akzeptanz für den eigenen Standpunkt einzufordern.
👉 Gesunde Ignoranz. Nicht jeder Mensch wird uns so kennenlernen, wie wir wirklich sind. Das muss nicht einmal an uns liegen. Sondern vielmehr hat es damit zu tun, welche Überzeugungen andere Menschen in ihrem Leben angenommen haben. Manche wollen einfach bei ihren Annahmen bleiben, auch wenn wir uns noch so viel Mühe geben, sie zu bekehren.
👉 Selbst-Validierung. Es ist hilft, sich selbst immer wieder darin zu bestärken, dass wir richtig sind, wie wir sind. Es ist nicht unsere Schuld, wenn uns nicht jeder mag. Selbst-Validierung stärkt das Selbstvertrauen und macht uns weniger abhängig von äußerer Anerkennung. Eine gute Übung dazu findest du hier.
💡 Tipp: Hier findest du schöne Sprüche und Zitate, die introvertierten Menschen guttun und ihnen Mut machen.
Das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeitspsychologie erklärt
Um Persönlichkeitstypen zu beschreiben, wird in der Psychologie häufig das sogenannte Fünf-Faktoren-Modell verwendet. Die Unterschiede zwischen den vielen Charakteren lassen sich mithilfe von fünf Haupteigenschaften beschreiben, den sog. Big Five. Jede dieser Eigenschaften spiegelt einen wichtigen Teil des Denkens, Fühlens und Verhaltens eines Menschen wider.
1️⃣ Offenheit
Wie wissbegierig, neugierig, experimentierfreudig oder vielseitig interessiert ist die Person?
2️⃣ Gewissenhaftigkeit
Wie sorgfältig, zuverlässig, verantwortungsvoll ist die Person?
3️⃣ Extraversion
Wie gesellig und energisch ist die Person?
4️⃣ Verträglichkeit
Wie rücksichtsvoll, empathisch und kompromissbereit ist die Person?
5️⃣ Neurotizismus
Wie emotional belastbar oder verletzlich ist die Person?
💡 Anmerkung: Die Eigenschaft Schüchternheit liegt auf diesem Spektrum. Spätestens mithilfe dieses Modells verstehen wir, dass Schüchternheit etwas anderes ist als Introversion.
👉 Wir können uns jede dieser Eigenschaften wie einen Schieberegler vorstellen. „In welche Richtung tendiere ich eher, bin ich eher introvertiert oder extravertiert? Bin ich eher offen oder traditionsbewusst?“ Keine der Eigenschaften ist wertend. Jede Ausprägung kommt mit ihren eigenen Potenzialen und Gefahren.
Außerdem ist es wichtig zu beachten: Kein noch so ausgeklügeltes Modell kann wiedergeben, wie individuell und einzigartig jeder Mensch ist. Doch es kann eine wertvolle Hilfe sein, um anzunehmen, was uns auszeichnet.
Folge 60 im Webplayer
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Timon und Melina
Schlagwörter: Arbeit / Erfolg / Gefühle / Introversion / Komfortzone / Kommunikation / Persönlichkeit / Psyche / Psychologie / Schüchternheit / Selbstbewusstsein / Selbstvertrauen
Liebe Melina,
ich bin gespannt auf den Podcast und werde ihn mir gleich mal anhören!
Alles Liebe
Sarah von https://achtsam.blog/
Liebe Melina,
super interessant!
Ich habe den Artikel “verschlungen” und das Buch von Olsen, Laney Marti bestellt!
Vielen Dank für die Infos!
Anja
Hi Anja,
das freut uns sehr zu lesen. Viel Freude mit dem Buch, da sind wirklich viele spannende Studien enthalten. :)
Hab einen schönen Wochenstart!
Melina