Wir müssen über reden. Und zwar über Selbstakzeptanz. Wenn du nicht erkennst, wie wertvoll du bist und dein Wesen mit all seinen Eigenheiten ablehnst, wie sollen andere Menschen, wie zum Beispiel Kollegen, Vorgesetzte, Geschäftspartner und Kunden deinen Wert erkennen?
Für dieses Thema habe ich mir Unterstützung von einer Expertin gesucht, die nicht nur die besten Tipps für mehr Selbstvertrauen im Beruf hat, sondern das Problem mit der Selbstakzeptanz auch aus ihrem eigenen Berufsalltag kennt. Amelie ist Psychologin und Autorin bei tinypsychologist.de. Als Psychologin hilft sie ihren Klienten Resilienz – das heißt psychische Widerstandsfähigkeit – aufzubauen. Dazu bietet sie Einzelcoachings und Workshops an. Ihr Ziel ist es, Menschen dabei zu helfen, mit den ungeplanten Gemeinheiten des (Arbeits-) Lebens besser umgehen zu können.
Viel Freude beim Lesen!
Gastbeitrag von Psychologin Amelie Schomburg
Selbstakzeptanz: Wer bin ich überhaupt?
Manchmal find ich mich wirklich seltsam. Denn manchmal, da bin ich aufgedreht, möchte im Mittelpunkt stehen, genieße Aufmerksamkeit, moderiere in meinem Job bis zu hundert Menschen durch eine Veranstaltung und habe Energie, um ganze Bäume auszureißen. Aber dann gibt es noch die anderen Momente. Momente, in denen es mich graust, unter Leute zu gehen. Momente, in denen ein simpler Telefonanruf beim Zahnarzt meine größte Herausforderung ist und Momente, in denen mir sogar das Antworten auf WhatsApp Nachrichten zu viel ist.
Menschen, die nicht introvertiert sind, können das nicht nachvollziehen. Dass ein „Wirklich? Stell dich nicht so an und frag selbst!“ bei mir zu Tränen führen kann. So oft habe ich mich über mich selbst geärgert, dass ich mich vermeintlich kleine Dinge nicht traue. Wie konnte es sein, dass mir kleine Dinge zu viel sind, wenn ich doch die Woche vorher ohne Probleme hundert Leute durch eine ganze Tagesveranstaltung moderiert hatte?
Lange Zeit mochte ich meine sensible Seite nicht. Oft habe ich nicht besonders nett mit mir selber geredet. Ich habe mich geärgert und mit mir geschimpft, wie es sein kann, dass ich mich schon wieder so anstelle.
„Amelie, warum bist du eigentlich so eine Memme! Und jetzt heulst du schon wieder!“
Anstatt sensibel mit mir und meinen Bedürfnissen umzugehen, habe ich versucht mich zu ändern. Nicht so mehr so sensibel zu reagieren. Mehr unter Menschen zu gehen. Stark sein.
Es hat eine Menge Zeit gekostet (mein Psychologiestudium hat auch geholfen), bis ich gelernt habe, dass ich gut so bin wie ich bin. Bis ich gelernt habe, auf meine Bedürfnisse zu hören. Als ich im Studium den Unterschied zwischen Extraversion und Introversion gelernt habe und die Tatsache, dass beide Gruppen ihre Energiespeicher unterschiedlich aufladen – Extravertierte durch den Kontakt mit anderen Menschen und Introvertierte durch das Alleinsein – wurde mir auf einmal klar, warum ich manchmal an den kleinen Aufgaben scheiterte. Gar kein Wunder, dass ich keine Energie mehr hatte, um beim Zahnarzt anzurufen, nach meiner Präsentation vor hundert Leuten hatte ich mir keine Zeit gegeben, um meinen Energiespeicher wieder aufzuladen.
Inzwischen habe ich gelernt meine Zeit so zu verplanen, dass ich mir genug Zeit gebe, um meine Energiespeicher aufzuladen. Ich habe gelernt, meine Bedürfnisse anderen Menschen gegenüber offen zu kommunizieren und für diese einzustehen. Mein Freund weiß, dass ich genug Zeit für mich alleine brauche und weiß auch, dass es nichts mit ihm zu tun hat, wenn ich das Bedürfnis dazu habe, niemanden zu sehen.
Am wichtigsten aber war es zu lernen, mich selbst zu akzeptieren. Inzwischen habe ich mich sogar wirklich richtig gern. Wenn heute Situationen auftauchen, die mir zu viel sind, dann schaffe ich es mich selber liebevoll zu betrachten. Über die schüchterne Amelie liebevoll zu schmunzeln und ihr zu sagen „Es ist okay, wenn du dich nicht traust, anzurufen. Du hattest diese Woche ja auch nicht genug Zeit, um deine Batterien wieder aufzuladen. Wir sorgen dafür, dass es nächste Woche besser aussieht.“
Sich selber so zu akzeptieren wie man ist, das ist gar nicht so einfach. Denn wir selbst sind unsere schärfsten Kritiker. Bei mir hat es einige Jahre und ein Psychologiestudium gedauert. (Nicht, dass ich hier vorschlage, dass ein ganzes Studium dafür nötig ist).
Bevor du dich jetzt für ein Psychologiestudium einschreibst, vielleicht helfen dir ja schon ein paar meiner Tipps.
Selbstakzeptanz stärken: 5 Hilfen, wie du lernst zu dir selbst zu stehen
#1 Lerne dich selbst kennen
Eigentlich völlig logisch, oder? Um sich selbst akzeptieren zu können, muss man erstmal wissen, was man akzeptieren muss. Man muss sich also selbst gut kennen. Es hilft zu wissen, wie man selber so tickt. Welche Dinge man gut kann, welche Dinge man nicht so gut kann. Welche Bedürfnisse man hat und was man überhaupt nicht ausstehen kann: Gehst du wirklich gerne auf Partys und tanzt bis in den Morgen? Oder gehst du eigentlich nur, weil alle deine Freunde gehen und du das Gefühl hast du müsstest deswegen auch? Findest du diese neue Serie wirklich gut oder guckst du nur, weil es gerade ein Hype ist?
Sich selber kennenzulernen ist ein Prozess und geht sicherlich nicht von einem Tag auf den anderen. Was dir helfen kann, ist, ein Journal zu führen. Schreibe dir auf, was du den ganzen Tag so gemacht hast und wie du dich dabei oder danach gefühlt hast. So fängst du an zu reflektieren und dir Gedanken darüber zu machen, wie du deine Zeit verbringst. Mach auch unbedingt eine Liste mit all den Dingen, die dir besonders gut tun! (Spazieren gehen, in die Badewanne, Bücher lesen…)
#2 Finde Gleichgesinnte
Egal, was für vermeintlich komische Hobbys oder Eigenschaften du vielleicht hast, es gibt immer Menschen, denen es genau so geht. Der Trick ist nur, sie zu finden. Da ich natürlich weiß, dass die meisten Leser von Vanilla Mind eher schüchtern sind, hier ist die Lösung: Das Internet! Du musst gar nicht aktiv fremde Leute ansprechen und hoffen, dass diese vielleicht die gleichen Hobbys haben wie du.
Als ich vor einigen Jahren beschlossen habe, dass ich mich nur noch pflanzlich ernähren möchte, da kam ich mir in meinem Umfeld ganz schön alleine vor. Was hab ich also gemacht? Das Internet! Im Internet gibt es genug Communities zum Thema Vegan und – schwups – habe ich mich nicht mehr wie ein Alien gefühlt. Ich war nicht mehr alleine. Das Problem ist, dass wir alle das Grundbedürfnis haben, dazu gehören zu wollen. Das nennt sich der „fundamental need to belong“. Deswegen passen wir uns einer Gruppe an. Doof ist eben nur, wenn diese Gruppe gar nicht dem entspricht, was uns ausmacht und wir uns verstellen.
#3 Du bist nicht deine Gedanken
Diese Erkenntnis hat mein Leben verändert. Wirklich. Du bist nicht deine Gedanken. Lies den Satz nochmal! Dieser konstante Strom an Gedanken, den wir leider nicht ausschalten können, der manchmal wirklich negativ sein kann, der bist nicht du. Das ist nur dein Kopf, der dir irgendwelchen Unsinn erzählt. Dass du nicht gut genug bist. Oder dass du zu schüchtern bist. Dass du mutiger sein solltest. Dass du fleißiger sein solltest.
Aber weißt du was das gute am Mensch-Sein ist? Wir können über unsere Gedanken nachdenken. Das sind unsere sogenannten Meta-Gedanken und man vermutet, dass das eine ausschließlich menschliche Fähigkeit ist. Das Gute daran ist, dass wir in unseren Meta-Gedanken erkennen können, wenn wir Unsinn denken.
Nimm dir einfach fest vor, das nächste Mal, wenn dich ein fieser Gedanke erwischt, einfach dagegen an zudenken. Sag dir einfach: „Lieber Kopf, du denkst gerade echt Unsinn! Ich bin prima!“ Sprich es vielleicht sogar laut aus. Ja, du kommst dir eventuell am Anfang dabei ganz schön komisch und albern vor, aber es hilft. Wirklich! Sprich mit dir selber, wie du mit einer Freundin oder Schwester sprechen würdest. Hab hier auch etwas Geduld, seine fiesen Gedanken zu erkennen und es schaffen dagegen zu halten, braucht auch Übung.
#4 Finde die positiven Seiten
Seien wir ehrlich, es gibt immer ein paar Dinge an uns, die uns nicht gefallen. Egal, wie gut wir schon in Selbstakzeptanz geworden sind. Das heißt ja nicht, dass wir alles an uns gut finden müssen. Konzentriere dich also auf die Dinge an dir, die dir gut gefallen, die du gerne magst. Du bist vielleicht nicht besonders sportlich, kannst aber dafür richtig gut fotografieren? Super! Nicht jeder kann alles können.
Du bist vielleicht total introvertiert, aber das macht dich gleichzeitig auch sehr emphatisch anderen Menschen gegenüber? Prima! Anstatt dich auf all das zu konzentrieren, was du nicht kannst, was du nicht bist oder was du nicht sein möchtest, konzentriere dich auf die Dinge, die du gut kannst, die du gerne bist, du die gerne sein möchtest. Falls es dir schwer fällt und du etwas systematischer an die Sache rangehen möchtest, schreibe dir jeden Abend drei Dinge auf, die du an dem Tag richtig toll gemeistert hast. Du wirst sehen, dass dein Fokus sich mit der Zeit anfängt zu ändern und dir die positiven Seiten an dir selber viel leichter auffallen.
#5 Mache Achtsamkeitstraining
Meditation zum Beispiel ist ein Tool für ganz viele Dinge und meiner Meinung nach eine absolute Wunderwaffe. Erwiesenermaßen haben Menschen die regelmäßig meditieren erhöhte positive Emotionen, sowie weniger Angstsymptome oder Symptome einer Depression. Tatsächlich berichten sie von stärkeren Beziehung zu ihren Mitmenschen. Meditation stärkt sogar dein Immunsystem!
Extra Tipp:
Hier kannst du dir den Erfahrungsbericht von Ilka Brühl anhören. Sie wurde mit einer Gesichtsspalte geboren und hat sich viele Jahre lang selbst gehasst. Warum das heute ganz anders ist und was ihr geholfen hat, sich selbst anzunehmen, erfährst du hier im Still & Stark Podcast.
Mehr von Amelie lesen:
Auf tinypsychologist.de schreibt Amelie über Positive Psychologie, Resilienz und über alles, was wir Menschen brauchen um ein positives und erfülltes Leben zu führen. Wenn du mehr Informationen über Amelies Angebote haben möchtest, dann schau doch auf ihrer Website amelie-schomburg.de nach oder lies ihren Blog. Solltest du aus Hamburg und Umgebung kommen, findest du hier ihren nächsten Workshop an dem du teilnehmen kannst: Zu den aktuellen Veranstaltungen.
Jetzt bist du dran:
Welche Eigenschaften an dir magst du besonders? Was machst du richtig gut in deinem Beruf? Wir freuen uns auf deine Einblicke!
Selbstliebe oder Selbstakzeptanz bedeutet, sich anzunehmen, wie man ist. Mit allen guten Seiten – aber auch den schlechten. Das heißt aber nicht, dass wir alles an uns supertoll finden müssen! Selbstannahme ist ein wichtiger Teilaspekt unseres Selbstwertgefühls. Es bestimmt unser Selbstbild und bildet außerdem die Basis eines wertschätzenden Miteinanders.
Selbstliebe oder sagen wir besser – Selbstakzeptanz – wird oft mit Egoismus verwechselt. Dabei Selbstannahme ist ein wichtiger Teilaspekt unseres Selbstwertgefühls. Es bestimmt unser Selbstbild und bildet außerdem die Basis eines wertschätzenden Miteinanders. Um dich selbst annehmen zu können, musst du dich erst einmal gut selbst kennen. Es hilft auch, wenn du dir jeden Abend drei Dinge aufschreibst, die du am Tag gemeistert hast. Im Artikel bekommst du noch mehr hilfreiche Tipps.
Schlagwörter: Arbeit / Erfolg / Gefühle / Introversion / Job / Komfortzone / Mut / Persönlichkeit / Psychologie / Schüchternheit / Selbstbewusstsein / Selbstständigkeit / Selbstvertrauen
vielen dank für dieses interessanten beitrag liebe melina! ich denke Meditation ist ein tool dass so viel positive Effekte mit sich bringt, so toll!
alles liebe,
carla
https://carlakatharina.com/
Hi Carla,
freut mich, dass Amelies Artikel bei dir so gut ankommt! Hast du schon einmal selbst meditiert?
Liebe Grüße
Der Artikel passt heute wie die Faust aufs Auge. Gerade wenn es mal nicht so läuft wie es laufen soll oder wenn 100 Sachen schief gehen – dann ist das denken an die positiven Seiten denke ich eines der wichtigsten Dinge, die man tun kann.
Danke dir, Grüße
Ja, das stimmt! Hast du zum Thema Horrortage auch schon diesen Artikel gelesen? ;)
https://vanilla-mind.de/horror-tag/
Liebe Grüße,
Melina
Danke für den schönen Artikel. Finde besonders die Hinwendung zu sich selbst wichtig, also sowohl die Selbsterkenntnis als auch das Sehen der eigenen Stärken. Alle wollen immer individuell sein, aber wenn es darum geht, wirklich wir selbst zu sein, kneifen wir gerne. Mehr Mut zur Verletzlichkeit startet damit, sich seine eigene Verletzlichkeit selbst einzugestehen und sie anzunehmen.
Alles Liebe
Janina
Hi Janina,
das hast du echt schön zusammengefasst. :)
Super Artikel, kurz und knackig auf den Punkt gebracht. Vielleicht klingt es für einige zu simpel, aber diese Tipps sind wirklich enorm wichtig für eine gesunde Basis. Punkt 1 + 5 haben bei mir auf jeden Fall eine massive Veränderung bewirkt.Und zu Punkt 3 würde ich noch ergänzen, dass diese Gedanken ja ganz oft in Richtung Vergleich mit Anderen gehen…und sich dann zu sagen “Nein ich bin genau richtig so wie ich gerade denke und fühle” ist so eine “Befreiung”.
Guter Punkt, das sehe ich ganz genauso! Dankeschön für dein tolles Feedback und liebe Grüße. :)
Toller Blogbeitrag und irgendwie genau das, was ich gerade brauchte! Weiter so! Danke :)
Oh ja ich fühlte mich früher auch wie ein Alien :-D.Das macht wirklich Mut, das man nicht alleine ist und das man es schaffen kann aus seinem alten Muster raus zukommen. Bin schon mutiger geworden, sonst hätte ich nicht meinen heutigen Verlobten kennengelernt. Nur jetzt mit Corona, spüre ich das ich wieder in mein altes Muster falle. Zweifel an sich selbst! Aber das nehme ich jetzt in Angriff – “Verstecken gilt nicht!” ist auf dem Weg zu mir nach Hause :-). Danke Melina und Amelie das ihr eure Erfahrungen teilt und andern (auch mir) Mut macht!