Hast du manchmal das Gefühl, dass in deinem Kopf komplettes Chaos herrscht und du gar nicht weißt, wie du so überhaupt den Alltag meistern sollst?

Hin und wieder geht es uns allen so. Jede:r von uns hat im Alltag so viele Bälle zu jonglieren, dass das Gehirn oft komplett überladen ist. – In meinem Fall ist diese Beschreibung allerdings Dauerzustand, weil ich ADHS habe. Ich stelle mich täglich der Frage: „Wie schaffe ich es heute, mein Tagespensum zu schaffen mit einem Gehirn, das ein bisschen wie eine Popcorn-Maschine funktioniert?“

⚠️ Typische Situationen: Ich versuche eine Aufgabe anzufangen, fahre meinen Rechner hoch und weiß schon nach dem Log-in nicht mehr, was die Aufgabe eigentlich war. 

Oder Umgebungsreize sind so unangenehm für mich, dass ich mich nicht konzentrieren kann. Das können Lichter, Geräusche und herumliegendes Zeug sein. Aber meistens sind es plötzlich aufploppende Gedanken, weil mein Gehirn einfach nie Ruhe gibt. 

Heute würde ich fast sagen, ich bin Profi im Bereich Selbstmanagement. Einfach deshalb, weil ich es sein MUSS. 🤷‍♀️

Diesen Artikel habe ich nicht in meiner Rolle als Coach verfasst. Sondern als Frau mit ADHS. Ich gebe dir persönliche Einblicke in meinen Joballtag mit ADHS – und verrate meine persönlichen Tricks, um stressfrei produktiv zu sein. 🚀

Das erfährst du in diesem Artikel: 

💻 Wie ADHS meinen Arbeitsalltag beeinflusst
🧪 Warum ich Experimentierfreude als das größte Asset ansehe
💡 Welche Techniken zur Selbstorganisation sich für mich bewährt haben

Oder sieh dir das Video auf YouTube an:

Arbeiten mit ADHS: ehrlicher Einblick 🤡

Bevor wir tiefer eintauchen: 

⚠️ In diesem Artikel spreche ich über ADHS und auch über psychische Gesundheit. Ich weiß, dass viele leichtfertig sagen „Boah, ADHS haben ja irgendwie alle neuerdings.“ Hin und wieder mal ein bisschen schusselig zu sein oder durch zu viel Zeit am Smartphone keine Konzentration mehr zu haben, ist noch lange kein ADHS – das sind ADHS-ähnliche Symptome. 

Echtes ADHS kann zu ernsthaften Schwierigkeiten im Leben führen. Die meisten Menschen mit ADHS haben nicht nur ADHS, sondern durch ihr andersartiges Gehirn oft noch eine ganze Palette an Begleiterkrankungen, weil sie in einem System funktionieren müssen, das ihre Besonderheiten nicht berücksichtigt. ADHS ist also nichts, was cool oder erstrebenswert ist. 

Dieser Artikel enthält keinen medizinischen Rat oder irgendeine Form von Beratung, sondern ist meine persönliche Erfahrung mit ADHS. Und wie sonst auch gilt: Jede:r muss durch Ausprobieren selbst herausfinden, welche Alltagsstrategien gut funktionieren. So, mit diesem Gedanken im Hinterkopf kann es losgehen.

Hat die Diagnose ADHS meine Sicht auf Produktivität und meine Arbeitsweise verändert? 

Ja und nein. – Ja, weil ich durch die Diagnose nun endgültig weiß: Wenn ich Schwierigkeiten mit Ablenkung, Fokus und Selbstorganisation habe, dann bin ich nicht faul und stelle mich auch nicht dumm an.

💡 Gut zu wissen:

Im Fachjargon spricht man im Zusammenhang mit ADHS oft von beeinträchtigten Exekutivfunktionen. Exekutive Funktionen sind kognitive Prozesse, die es ermöglichen, Gefühle, Denken, Verhalten und Aufmerksamkeit zu steuern. Das ist z. B. wichtig beim Planen, Ausführen und Adaptieren unserer täglichen Handlungen. Bei Menschen mit ADHS ist dieses Selbstmanagement-System des Gehirns beeinträchtigt.

In meinem Fall ist besonders das Arbeitsgedächtnis betroffen. – Typische Situationen: Ich versuche eine Aufgabe anzufangen, fahre meinen Rechner hoch und weiß schon nach dem Log-in nicht mehr, was die Aufgabe eigentlich war. Oder ich starte eine Aufgabe und schaffe es nicht sie zu beenden, weil mein Arbeitsgedächtnis nicht ausreicht, um alle notwendigen Schritte lang genug im Blick zu behalten.

Eine andere Problematik ist meine Reizfilterschwäche, die dazu führt, dass ich mich oft nicht konzentrieren kann. Das können Lichter, Geräusche und herumliegendes Zeug sein. Aber meistens sind es plötzlich aufploppende Gedanken, weil mein Gehirn einfach nie Ruhe gibt. 

Auf der anderen Seite hat sich mit der ADHS Diagnose aber auch einiges NICHT verändert:

Denn auch ohne Diagnose wusste ich schon immer von meinen Herausforderungen. Deswegen habe ich schon vor vielen Jahren passende Strategien entwickelt, um mich zu organisieren. Und die sind offenbar so gut, dass andere Menschen oft denken, ich hätte mein Leben gut auf der Kette (was natürlich oft genug völliger Quatsch ist).

Wie habe ich herausgefunden, welche Strategien funktionieren, um produktiv zu bleiben?

Experimentieren, Experimentieren, Experimentieren! 🧪

Jedes Gehirn ist anders und es kommt leider ohne Bedienungsanleitung. Man braucht also Forschergeist, um sich selbst immer wieder neu zu entdecken und herauszufinden, was einem guttut. Von Menschen mit ADHS wird oft gesagt, sie seien sehr neugierig und kreativ. Auf diesem Gebiet kommen diese Stärken voll zum Tragen! Stimmungen und Bedürfnisse verändern sich mit der Zeit und es liegt in meiner Hand, mich zu beobachten und immer wieder nachzujustieren.

Dabei ist es mir sehr wichtig, auch die „Was geht nicht“-Erfahrungen wertzuschätzen. Ich habe über die letzten 15 Jahre unzählige Methoden, Apps, Tools und Planer ausprobiert: u. a. Todoist, CoachMe, Kanban, die Pomodoro-Technik, verschiedene Print-Organizer. Manche haben eine Weile gut für mich funktioniert, andere gar nicht. Und das ist okay! 

So habe ich durch über die Jahre hinweg ein maßgeschneidertes System zur Selbstorganisation für mich entwickeln können, die mich sehr gut durch den Alltag trägt.

Welche Tools nutze ich aktuell, um mein ADHS im Job zu managen – und wie?

Mein komplettes System basiert auf der Kombi aus einem geteilten, digitalen Kalender und einem Bullet Journal.

📆 Meine Kalender-Strategie:

Da ich nicht alleine lebe, bietet es sich an, ein gemeinsames Kalender-Tool zu führen, das sich auf allen Geräten synchronisiert (in meinem Fall: Google Kalender, der mit Apple Kalender synchronisiert ist). Morgens beim Frühstück gehen mein Partner und ich kurz durch, was ansteht. Dadurch vergesse ich weniger und bin mental auf den Tag vorbereitet. Ich habe zwei Kalender, die mit verschiedenen Farben codiert sind: Rosa für private Termine, Lila für Business Termine.

Dank ADHS neige ich dazu, mein Zeitempfinden ständig zu unterschätzen und mich zu überplanen. Deshalb nutze ich z. B. für alle externen Termine die Funktion „Wegzeit berechnen“. Ich gebe immer die Adressen mit in den Termin ein. Vorteil: Wenn ich mein Handy im Auto anschließe, wird mir direkt die Navigation zu meinem Termin vorgeschlagen, was mein Stresslevel enorm senkt, wenn ich doch wieder zu spät dran bin. 

Essentiell ist auch die Alarm-Funktion des Kalenders: Um gut für mich zu sorgen, habe ich feste Wecker für meine Mittagspause, meine Mahlzeiten, den Feierabend, Spaziergänge mit meinem Hund und Me-Time. Das hilft mir, gesunde Strukturen beizubehalten und beugt Überlastung vor. Die Termine mit mir selbst sind besonders wichtig, weil ich dazu neige, zu oft „ja“ zu sagen, obwohl ich bereits unter zu viel Stress stehe. 

Termine und Alarme klingen im ersten Moment nach einem einschränkenden Korsett, aber für mich ist das Gegenteil der Fall: Es reduziert meinen mentalen Ballast, weil ich mir weniger Dinge merken muss und mir diese Struktur Sicherheit und Kontrolle bietet.

📓 Wie ich mein Bullet Journal nutze:

Da Notizbücher mit vorgedruckten Fragen mich unter Druck setzen und sich einschränkend für mich anfühlen, führe ich ein Bullet Journal. Es wird auf punktkariertem Papier geführt und ich nutze es nur zu dem einen Zweck, den jeweiligen Tag zu planen.

Das geschieht in dem Mini-Meeting beim Frühstück: Jeder teilt dem anderen sein Vorhaben für den Tag mit und notiert es dann im Bullet Journal. Ich achte darauf, mir nicht mehr als drei To-Dos zu notieren, denn meistens verläuft der Tag anders, als man es sich am Morgen vorgestellt hat.

Ein weiteres Ritual bei meinem Bullet Journal ist der sogenannte Backlog am Sonntagabend: Ich schreibe alles, was in der kommenden Woche wichtig wird, auf. Egal ob Termine, To-Dos oder Ideen. Alles, was mich umtreibt, muss aus meinem Kopf, damit ich die neue Woche nicht mit Panik starte

👉 Eine Anleitung für Einsteiger:innen findest du hier.

Und ja, abgesehen von diesem System habe ich auch jede Menge Post-its überall kleben – an der Haustür, an meinem Computer, auf der Innenseite des Badezimmerschranks, usw…

Wie gehe ich mit Aufgaben um, die mir besonders schwerfallen und mich überfordern?

Oft schiebe ich sie so lange vor mir her, bis sie entweder nicht mehr relevant sind oder es zeitlich brenzlig wird. Das ist nicht ideal, aber es passiert. Das kann unterschiedliche Gründe haben: Die Aufgabe ist zu groß, zu unklar oder ich habe zu wenig Pausen gemacht.

Um Blockaden zu lösen fahre ich gut mit den folgenden Methoden:

🙌 Micro Tasks: Wann immer ich komplett paralysiert vor einer Aufgabe sitze und nichts hinbekomme, frage ich mich: „Was ist der allerkleinste Schritt zum Starten?“ Und ich meine hier: So klein, dass man überhaupt nicht scheitern kann. In der Praxis kann das bedeuten, eine Liste mit den benötigten Materialien zu machen. Oder statt einen kompletten Text zu schreiben, nur die Überschrift oder den ersten Absatz zum Ziel zu machen. Hauptsache anfangen, Flow kommt später.

🎮 Gamification: ​​Ich versuche aus Aufgaben, die ich absolut nicht mag oder auf die ich keine Lust habe, kleine Spiele zu machen und mich von Level zu Level zu hangeln. Für jedes Level gibt es eine Belohnung. Belohnungen, die bei mir gut funktionieren sind z. B. Mystery Bags öffnen, für 15 Minuten in irgendeinem Subreddit verschwinden oder Hörbuch hören.

Ich habe auch den Tipp gelesen, dass man für jede unangenehme Aufgabe, die man gelöst hat, eine Murmel in ein Glas werfen kann. Und wenn das Glas voll ist, darf man sich eine Sache gönnen, die man schon sehr lange kaufen wollte. Wie zum Beispiel DIY Zubehör. Das habe ich bisher noch nicht getestet.

Wie schaffe ich es, mich nicht selbst zu verurteilen, wenn ich nicht schaffe, was ich wollte?

Volle Transparenz: Manchmal schaffe ich es nicht. Als jemand, der viel kreativ arbeitet, weiß ich, dass man oft eine große Vision hat, aber dann auf halber Strecke scheitert. Das kann frustrierend sein und das Gefühl geben, nichts hinzubekommen.

Wenn ich das Gefühl habe, dass mein Gehirn mich mal wieder im Stich lässt und ich etwas Wichtiges vergessen habe, neige ich zu Selbstkritik und Verbissenheit. Vielleicht kennst du Gedanken wie diese auch: „Siehste, das geschieht dir recht“, „so schwer kann’s doch echt nicht sein!“.

Was mir dann besonders gut tut, ist ein Akt von Selbstmitgefühl. Darum geht es bei Selbstmitgefühl: Kristin Neff forscht als Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung an der Universität von Texas in Austin. Sie konnte nachweisen, dass Menschen, die in schwierigen Situationen freundlich zu sich selbst sind und mit sich umgehen wie mit einer guten Freundin oder Freund, eine bessere körperliche Gesundheit und ein stärkeres Selbstvertrauen aufweisen. Eine der Interventionen, die sie empfiehlt, stelle ich dir hier vor. 

Fazit: Niemand hat die Bedienungsanleitung für dich und dein Gehirn. 

👉 ADHS ist komplex und jede:r erlebt es anders. Es gibt keine allgemeingültige Lösung. Was für mich funktioniert, muss nicht für dich funktionieren. Aber ich hoffe, meine Erfahrungen und Strategien können dir ein paar Anregungen geben.

Probier aus, was dir guttut. Und seid freundlich zu dir selbst! Es ist okay, wenn nicht alles perfekt läuft. Es ist okay, Dinge zu Probieren und wieder zu verwerfen. Man verändert sich und braucht immer wieder unterschiedliche Lösungen! 🫶

Für dich zum Mitnehmen: Lade dir mein Toolkit herunter!

💬 Mich interessiert: Welche Strategien helfen DIR am besten, um mit ADHS (oder einfach Ablenkung) produktiv zu bleiben?

👉 Und lade dir das auch das PDF mit allen Werkzeugen und Strategien aus diesem Video, damit du nichts davon vergisst: https://vanilla-mind.de/produktiv-mit-adhs-toolkit


Quellen:

ADHD & the brain. (2017). https://www.aacap.org/AACAP/Families_and_Youth/Facts_for_Families/FFF-Guide/ADHD_and_the_Brain-121.aspx

Evren B, et al. (2018). Neuroticism and introversion mediates the relationship between probable ADHD and symptoms of Internet gaming disorder: Results of an online survey. https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/24750573.2018.1490095

Gehricke J-G, et al. (2017). The brain anatomy of attention deficit hyperactivity disorder in young adults — a magnetic resonance imaging study.https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5391018/

Neff, Kristin D./Christopher K. Germer: A Pilot Study and Randomized Controlled Trial of the Mindful Self-Compassion Program, in: Journal of Clinical Psychology, Wiley, Bd. 69, Nr. 1, 15.10.2012, doi:10.1002/jclp.21923, S. 28–44.

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