Uns erreichen immer wieder Worte wie diese: „Ich will ja wirklich zu mir stehen und mich nicht ständig für meine Bedürfnisse entschuldigen.“ – Und jetzt kommt das große ABER: „Aber ich schäme mich so oft für meine Bedürfnisse und denke oft, vielleicht müsste ich ja wirklich anders sein. Wie überwinde ich dieses Gefühl?“

Scham ist eine der menschlichsten Emotionen. Die meisten Menschen empfinden Scham in bestimmten Situationen – und das ist vollkommen normal. Schamgefühle mag jedoch fast niemand zugeben. Es besteht die Gefahr, toxische Scham zu entwickeln, wenn wir unsere Empfunden und Bedürfnisse hinter einem Berg aus Schutzstrategien verstecken und uns nicht mehr trauen, wir selbst zu sein.

👉 Was müssen wir über Scham wissen? Und was kann können wir tun, wenn wir unsere Schamgefühle überwinden wollen?

Das lernst du in diesem Beitrag über Schamgefühle:

🧠 Weshalb Scham so eine wichtige Emotion ist
😌 Wie ein gesunder Umgang mit komplizierten Emotionen gelingt
🌈 Wie eine freie und sichere Arbeitsatmosphäre entsteht

Entspann dich, setzt dich bequem hin – viel Freude beim Anhören!

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Schamgefühle verstehen: Fragen und Antworten

Darum ist es so wichtig, dass wir über Scham reden:

  1. Weil sie uns alle betrifft. Alle Menschen empfinden Scham und das ist völlig in Ordnung.
  2. Weil Scham durch unser Schweigen erst so richtig Macht bekommt.
  3. Weil sie uns lähmen kann, wenn wir falsch mit ihr umgehen.
  4. Weil wir unser Leben genießen können, wenn wir es schaffen, einen gesunden Umgang mit Schamgefühlen zu finden.

Wo begegnet uns Scham?

Scham ist ein Gefühl, dass alle Menschen situativ kennen und jede:r hat normalerweise Lebensbereiche, in denen Scham wahrgenommen wird. Hier ein paar Beispiele:

🖤 Viele leise Menschen empfinden beispielsweise Scham für ihre eigenen Bedürfnisse: „Du bist zu leise!“ „Es ist nicht normal, so viel Zeit für sich zu brauchen!“

💬 Das Gefühl, nicht zugehörig zu sein, weil man die Landessprache nicht so gut beherrscht wie andere.

🤕 Eine (chronische) Erkrankung zu haben und deshalb weniger leisten zu können.

🎓 Bildung und Karriere sind ebenfalls schambesetzte Themen. Das weiß ich nur zu gut, denn hier liegt mein eigener wunder Punkt. Meine persönliche Erfahrung schildere ich dir kurz (ausführlich kannst du sie in meinem Buch „Verstecken gilt nicht“ lesen):

„Ich habe die Schule kurz vorm Abitur abgebrochen, weil ich damals psychische Probleme hatte. Ich war eine gute Schülerin, aber aufgrund meiner psychischen Probleme wurde ich immer schlechter. Als ich mein Halbjahreszeugnis im 13. Jahrgang bekam, war mir mein Abitur dann nicht mehr sicher: 5 in Mathe. 5 in Sport. Also beschloss ich, die Schule ruhen zu lassen und mich erst einmal auf meine mentale Gesundheit zu konzentrieren.

Das Abitur habe ich nie nachgeholt. Und ich habe nie studiert. Ich empfinde auch heute oft Scham, wenn ich diese Facette von mir preisgebe. Ich fühle mich wie eine Versagerin, denn Abitur und Studium stehen in unserem gesellschaftlichen Wertesystem für Intelligenz, Erfolg und Ansehen. Ich jedoch bin diesen Weg nicht gegangen und halte mich darum in vielen Situationen für nicht gut genug. Ich kämpfe ständig mit dem Impostor-Syndrom. Meine Schamgefühle verstecke ich in der Regel gut getarnt hinter meinem Perfektionismus. Ich klammere mich deshalb gern an Zahlen und Fakten oder verwende viele Fachbegriffe.“

👉 Fazit: Geschlecht, Rasse, Sexualität, Bildungsstand und auch Klasse sind sehr schambehaftet. Das ist die Realität, in der wir leben. Wenn wir also überlegen, was wir an unserem eigenen Umgang mit Scham verändern können – dann verändern wir automatisch auch die Welt um uns herum.

Was bewirkt Scham?

Scham macht uns sehr verletzlich. Es fühlt sich so an, als wären wir emotional komplett nackt. Hilflos und ausgeliefert. Wenn jemand einen wunden Punkt bei uns trifft, sind wir in der Regel tief erschüttert. Wir reagieren zum Beispiel defensiv oder versuchen das unangenehme Gefühl so gut wir können zu überspielen.

Die meisten von uns haben deshalb schon früh in ihrem Leben Bewältigungsstrategien entwickelt, die unsere Psyche vor Verletzungen schützen sollen. Dazu gehört zum Beispiel Vermeidungsverhalten oder Perfektionismus.

Wenn wir uns schämen, kommen häufig zwei schmerzhafte Botschaften zum Tragen:

„Ich bin nicht gut genug.“
„Was glaube ich überhaupt, wer ich bin?!“

⚠️ Neurowissenschaftliche Forschungen zeigen, dass Schamgefühle genauso real sind wie körperliche Schmerzen.²

👉 Wir alle – unsere Gesellschaft – sind nicht geübt darin, über unsere negativen Empfindungen zu sprechen. Wenn wir in die Historie Deutschlands zurückschauen, stellen wir fest, dass Scham ein Tabu-Thema ist. Haben deine Großeltern je darüber gesprochen, was sie im Krieg erlebt haben? Meine haben es nicht getan. Und viele, viele andere auch nicht. Und das ist ihr gutes Recht. Niemand muss mit der ganzen Welt über Traumata sprechen. Doch wenn dieses Verhalten auf jede unangenehme Situation und jedes komplizierte Gefühl übertragen wird, kann toxische Scham entstehen. So wird an die nächste Generation immer wieder weitergegeben: „Über schmerzhafte Empfindungen reden wir nicht.“ Und dies ist heutzutage noch oft die einzige Strategie, die wir kennen. Zeit, das zu ändern!

Wie können wir Scham entlarven?

Fangen wir bei unserer Sprache an. Umgangssprachlich reden wir davon, uns zu schämen, uns schuldig zu fühlen, gedemütigt zu werden oder dass uns etwas peinlich ist. Wir haben es also mit einer Reihe von Begriffen zu tun, die häufig synonym verwendet werden.

Es ist jedoch wichtig, die psychologischen Unterschiede genau zu kennen, um toxischer Scham begegnen zu können!

Das kleine Wörterbuch der Scham

👉 Scham: Scham wird als die „Nie gut genug“-Emotion bezeichnet und hängt direkt mit unserer Selbstachtung zusammen. Schamgefühle entstehen, wenn wir das Gefühl haben, bestehenden Werten, Regeln oder Anforderungen nicht zu genügen. Schamgefühle können sogar auf Augenzeug:innen übergreifen und dazu führen, dass auch andere betroffen schweigen. Ein Beispiel hierfür ist sexuelle Belästigung. In solchen Situationen werden nicht nur wir von unseren eigenen Schamgefühlen gelähmt, es entsteht auch eine kollektive Scham.

👉 Schuld: Schuld bedeutet das Verantwortlichsein für etwas Unangenehmes oder ein Unglück. Schuldgefühle können uns motivieren, Verantwortung zu zeigen und etwas in Ordnung zu bringen. Scham hingegen lähmt.

👉 Peinlichkeit: Pein ist ebenfalls ein unangenehmes Gefühl. Es wird allerdings deutlich weniger intensiv erlebt als Scham. Peinlichkeit sind eher die „Upsi“-Momente im Leben. Unangenehm ja, aber später können wir meistens drüber lachen. Im täglichen Sprachgebrauch wird Scham häufig mit Peinlichkeit verwechselt. Deswegen ist es wichtig, genau hinzusehen!

👉 Demütigung: Angenommen, du wirst von einer Person vor versammelter Mannschaft als Versager:in bezeichnet. Wie reagierst du? – Wenn du glaubst, dass du diese Behandlung verdient hast und nicht gut genug bist, ist es Scham. – Wenn du es ungerecht findest, dass sie so mit dir redet, dann ist es das Gefühl von Demütigung. Deine Selbstwert leidet nicht mit.

Übersicht: was du über Scham wissen musst

Scham untergräbt und beschädigt unser Selbstwertgefühl. Deshalb können Schamgefühle massive Ängste in uns erzeugen und verstärken.

Die Forscher:innen Tamara Ferguson, Heidi Eyre und Michael Ashbaker haben festgestellt, dass eine „unerwünschte Identität“¹ einer der Hauptauslöser für unsere Schamgefühle ist. Unerwünschte Identitäten sind Eigenschaften und Wesenanteile, die nicht zu unserer Vorstellung von unserem idealen Selbst passen.

Dazu kann gehören: Krankheit, Unzuverlässigkeit, Fehler machen, etwas nicht wissen, Unsicherheit bezüglich sozialer Normen und Umgangsformen.

Unverarbeitete Scham steht in hohem Zusammenhang mit Süchten, Gewalttätigkeit, Aggression, Depression, Essstörungen und Mobbing. Scham und Angst können der Antrieb für viele destruktive Verhaltensweisen sein: Sich selbst und anderen gegenüber!

Das kleine 1x1 der Scham
Zum Abspeichern: Scham mit wenigen Worten erklärt

Warum ist es so schwer, sich authentisch und verletzlich zu zeigen?

Schamgefühle betreffen direkt unseren Selbstwert. Unser Selbstwertgefühl bauen wir bereits in der Kindheit auf. Es kann also sein, dass unser Selbstwert in der Kindheit Schaden genommen hat, weil wir Liebe nicht in der Form erfahren haben, wie wir sie uns gewünscht hätten. Wir schlussfolgern dann, dass wir versagt haben: „Ich bin nicht liebenswert. Ich bin nicht gut genug.“

Unsere Arbeitskultur befeuert Schamgefühle noch, indem sie Leistungsdruck, Perfektionismus und Selbstdarstellung verherrlichen. Wer normaler Durchschnitt ist, schämt sich dafür oft.

Warum treten Schamgefühle besonders im Job auf?

Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen, die alle zeigen, dass Vorgesetzte häufig psychische Defizite und Millionen Beschäftigte leiden darunter. Eine Untersuchung von zwei Psychologen kommt zu der Einschätzung: „Jeder dritte Vorgesetzte ist ein kranker Quäler“.

Viele Vorgesetzte sind in Positionen, in die sie eigentlich nicht passen. Die nüchterne Erkenntnis: Über den Daumen gepeilt sind ein Drittel sehr gute bis gute Chefs, ein weiteres Drittel ist ausbaufähig und vom letzten Drittel ist jeder Dritte nicht mehr tragbar und gehört entfernt. – Soll heißen, immerhin verbleiben noch 23 Prozent, die im Umgang mit Menschen Schulung benötigen.

Wo ein Klima von Angst und Scham herrscht, hat Empathie keinen Platz mehr und das eigene Ego übernimmt das Steuer. Jede:r läuft nur noch in emotionaler Schutzrüstung herum. Die bekannt Scham-Forscherin Brené Brown bringt es auf den Punkt: „Wer seine Mitarbeiter misshandelt, kein Vertrauen aufbaut und nicht darüber redet, was menschlich ist, drängt Arbeitnehmer in zwei Positionen: Kampf oder Resignation.“

Checkliste: Herrscht an meinem Arbeitsplatz ein toxisches Klima?

👉 Wenn du das Gefühl hast, dass du nicht die einzige Person bist, die sich in deiner Firma unwohl fühlt, dann klopfe folgende Alarmsignale ab:

  • Wird Perfektionismus gelobt oder glorifiziert?
  • Wird hinter dem Rücken anderer gelästert?
  • Bevorzugen die Vorgesetzten bestimmte Mitarbeitende?
  • Werden Menschen gegeneinander ausgespielt oder miteinander verglichen?
  • Wird ständig nach einem Sündenbock gesucht?
  • Werden Probleme und Konflikte vertuscht und totgeschwiegen? (Zum Beispiel wenn Spannungen und Ungerechtigkeiten bestehen, die ignoriert werden.)

Natürlich gibt es kein perfektes Unternehmen. Doch jede Firma benötigt eine mutige Führung, um Fortschritt, Kreativität und Vertrauen zu fördern. Und Überraschung: All diese Werte basieren auf der Bereitschaft, uns verletzlich zu machen! ⚠️

Vorgesetzte, die Mitarbeitende für Authentizität und mutiges Handeln bestrafen, werden sich höchstwahrscheinlich nicht ändern. Doch es gibt zum Glück auch andere, die zuhören und offen für Ideen und Veränderungen sind.

Wie überwinde ich Schamgefühle?

💜 Schritt 1: Akzeptanz
Wenn du Gefühlen nicht genügend Raum gibst, sondern sie immer wieder verdrängst, können sie sich anstauen – um sich dann auf noch heftigere Weise zu entladen. Möglich Folgen sind emotionale Abstumpfung, Süchte, Depressionen, fehlende Empathie mit uns selbst und anderen, psychische Störungen.

Darum ist Akzeptanz so wichtig: Du gestehst dir selbst gegenüber ein, dass du Scham empfindest und dass du damit nicht allein bist. Dadurch normalisierst Scham und lernst, sie in Worte zu fassen.

💬 Schritt 2: Offenheit
Natürlich musst du nicht mit jedem über alles reden. Es gibt immer persönliche Grenzen und die sind auch wichtig. Denn Offenheit ohne jegliche Grenzen ist auch kein hilfreicher Umgang mit Schamgefühlen.

Es ist jedoch wichtig, mit sich und seinen Emotionen im Reinen zu sein! Über unsere Schamgefühle sprechen wir nicht, weil dabei zu viel für uns auf dem Spiel steht. Schließlich würde uns jede unangemessene Reaktion erneut beschämen und verletzen. Wir sind neurobiologisch so verdrahtet, in Verbindung miteinander zu sein! Je mehr wir uns verstecken, desto mehr leiden wir!

Nur wenn wir Erfahrungen mit anderen Menschen sammeln und uns angreifbar machen, können wir die Schamgefühle heilen. Bleib bei dir und sende Ich-Botschaften: „Ich fühle mich entmutigt, wenn du so über meine Arbeit redest.“

Das beste Zitat zum Umgang mit Scham und schwierigen Gefühlen liefert Brené Brown: „Scham ist eine soziale Wunde und erfordert daher einen sozialen Balsam.“

💡 Schritt 3: Schamsituationen anderer erkennen
Mach dir bewusst, dass Scham und Macht dicht beieinander liegen. Denn ein Mensch, der sich schämt, befindet sich immer in einer unterlegenen Situation. Das macht uns alle sehr anfällig für Manipulation und Missbrauch. Ein emotionaler Schutzpanzer hilft jedoch nicht vor Verletzungen! Scham zeigt an, dass eine Person sich Sicherheit und Wertschätzung wünscht. Schaffen wir also sichere Räume, indem wir uns mit Bewertungen zurückhalten und zeigen, dass wir achtsamer Zuhörer:innen sind.

Gut zu wissen:

⚠️ Eine Studie der UC Ber­ke­ley über Scham und Inti­mi­tät zeigte, dass Men­schen, die ihre Schamgefühle offen zugeben, als ver­trau­ens­wür­di­ger, sym­pa­thi­scher und groß­zü­gi­ger wahr­ge­nom­men werden, ver­gli­chen mit eher „unbeteiligen, coolen“ Men­schen. Es ist nicht nur gut für die Psyche, das Versteckspiel zu beenden, sondern auch für unser gesamtes Umfeld. Sich nicht allein zu fühlen, sichert das Überleben – doch wer sich abkapselt, verzichtet auf neue Perspektiven, Unterstützung und das Gefühl, den eigenen Problemen gewachsen zu sein.

Toxische Scham: Beide Folgen direkt im Webplayer anhören

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Quellen
1: Unwanted Identities: A Key Variable in Shame–Anger Links and Gender Differences in Shame | SpringerLink: https://link.springer.com/article/10.1023/A:1007061505251

2: Does Rejection Hurt? An fMRI Study of Social Exclusion | Science: https://www.science.org/doi/abs/10.1126/science.1089134

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