Kennst du das: Du sitzt in einer Gesprächsrunde und würdest gern etwas beitragen. Du denkst also nach, wie du es am besten ausdrücken kannst… du legst dir deine Worte zurecht, überprüfst im Gehirn nochmal, ob sie wirklich Sinn ergeben und dann gehts los! Oder? – Nee Mist, das Gespräch ist schon längst in eine komplett andere Richtung weitergegangen!
Dieses Szenario ist keineswegs untypisch für introvertierte Menschen. Falls du also bisher dachtest, mit diesen Erlebnissen allein dazustehen: dem ist nicht so. Viele Introvertierte sind unzufrieden oder schämen sich, wenn sie das Gefühl haben nicht schnell genug hinterherzukommen – oder wenn eine schnelle Antwort verlangt wird und nur Wortsalat aus ihrem Mund kommt!
Was außerdem für viele irritierend ist: Beim Schreiben treten diese Probleme nie auf, nur beim lauten Sprechen.
👉 Wieso ist das so? Und was können wir unternehmen, um uns selbstbewusster zu fühlen?
Um diese Fragen zu klären, haben wir uns mit wissenschaftlichen Studien über die Gehirnchemie introvertierter Menschen befasst. In diesem Artikel erfährst du:
✏️ Warum viele Intros sich lieber schreibend ausdrücken
🧠 Was im Gehirn passiert, wenn du das Gefühl hast, mit Worten zu ringen
🌞 Wie du dich in Gesprächen selbstbewusster fühlst
Vielen Introvertierten fällt Schreiben leichter als Reden
Erkennst du dich in diesem Erfahrungsbericht wieder?
„Ich habe schon ziemlich früh – da ging ich noch zur Schule – gemerkt, dass mir schreiben leichter fällt als reden. Klassenarbeiten fand ich immer super, das war schließlich Stillarbeit. Aber mündliche Beteiligung war ein Graus für mich. Wenn ich endlich klar hatte, wie ich meine Antwort geben will, dann hatte es natürlich schon längst jemand anderes gesagt.
Das ist heute noch ganz ähnlich. Ich brauche lange, um meine Gedanken zu sortieren. Beim Reden fühle ich mich schwerfällig und langsam. Bis ich soweit bin, ist das Gespräch schon längst weitergelaufen und es wird über etwas ganz anderes geredet.
Manchmal beobachte ich an mir, wie ich um Worte ringen muss, obwohl in meinem Kopf eigentlich alles einen perfekten Sinn ergibt! Es ist, als hätte ich einen Knoten in der Zunge. Ich fühle mich dann sehr unwohl. Besonders im Job habe ich Angst, so rüberzukommen, als wüsste ich nicht, wovon ich rede.“
Warum scheinen Introvertierte im Gespräch oft mit Worten zu ringen, während schreiben sich anfühlt wie das Natürlichste auf der Welt?
💡 Die meisten Menschen sind visuell orientiert. Sie denken in Bildern. Eine Harvard-Studie¹ aus dem Jahr 2017 kam zu der Schlussfolgerung, dass Menschen primär auf visuelles Denken aufgerichtet sind. Um uns mitzuteilen und ausdrücken zu können, müssen unsere Bilder also erstmal in Worte übersetzt werden. Unser Gehirn muss beim Reden also erst einmal Übersetzungsarbeit leisten. – Aber was hat das alles mit Introvertierten zu tun?
Darum brauchen Introvertierte mehr Zeit zum Nachdenken
🧠 Was wir über das introvertierte Gehirn wissen müssen: Gehirnscans haben ergeben, dass Introvertierte beim Denken verstärkt auf ihr Langzeitgedächtnis² zurückgreifen. Und das kostet Zeit.
Die im Langzeitgedächtnis gespeicherten Informationen liegen meist außerhalb unseres Bewusstseins. Manchmal sind die Informationen relativ leicht zugänglich, zum Beispiel wenn du dich daran erinnerst, was du heute schon gegessen hast. Andere Erinnerungen hingegen sind schwerer abrufbar.
Informationen aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen, dauert logischerweise also länger als Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis abzurufen, so wie es eher extravertierte Personen tun. Schließlich brauchen wir ja erst einmal eine Assoziation oder eine Gedächtnis-Brücke, die uns an das gesuchte Wort erinnert.
Wenn dann jemand eine schnelle Antwort von uns verlangt und wir das Gefühl haben, zu wenig Zeit zum Denken zu haben – tja, dann entsteht mitunter der berühmte Wortsalat.
Wenn Angst das Denken erschwert
Zeit zum Nachdenken zu benötigen, ist kein Makel. Wie wir eben betrachtet haben, handelt es sich einfach um zwei grundverschiedene Arten von Denkprozessen. Jede hat ihre eigenen Vor- und Nachteile.
Wenn die betroffene Person nicht nur introvertiert, sondern zusätzlich auch schüchtern ist, kann ein gewisser Leidensdruck entstehen. Nicht jede introvertierte Person leidet unter sozialen Ängsten, und nicht alle ängstlichen Menschen sind introvertiert – auch einige sehr kontaktfreudige Extravertierte können unter sozialen Ängsten leiden. Es ist jedoch nicht ungewöhnlich, dass Introvertierte in Gruppensituationen schneller gestresst sind.
Durch die Angst etwas Falsches zu sagen oder die Angst vor Ablehnung und Beurteilung kann uns die Fähigkeit abhanden kommen, souverän auf Situationen zu reagieren und wir versuchen schneller zu reagieren, als unser Gehirn uns Worte zur Verfügung stellt.
Stress und mentale Erschöpfung können unser Denken, die Konzentration und das Abrufen von Informationen erschweren. Unser Gehirn schüttet das Stresshormon Cortisol aus, das unter anderem das Gedächtnis und die Konzentration beeinträchtigen kann.
💡 Merke: Dass Introvertierte das Schreiben vorziehen, muss nichts mit Schüchternheit zu tun haben! Es ist vielmehr so, dass viele beim Schreiben mehr Ruhe im Kopf verspüren und Dinge leichter durchdenken können.
Das können Introvertierte tun, um sich beim Reden wohler zu fühlen
Diese 3 Tipps solltest du beherzigen, um souveräner in Gruppen aufzutreten:
1️⃣ Bereite dich vor.
Vielleicht gehörst du wie ich zu den Menschen, die sich auf Gespräche gern vorbereiten. Vor allem, wenn es um etwas Wichtiges geht. Das ist eine gute Idee! Du kannst dir auch Stichworte auf einem Zettel notieren. Falls dir das peinlich ist: Bisher habe ich immer nur Bewunderung dafür bekommen, gut vorbereitet zu sein.
2️⃣ Gib dir Zeit.
Heute verstehe ich, dass es ganz normal für mich ist, etwas mehr Zeit zu brauchen. Ich übe also, sie mir selbst auch zuzugestehen. Wenn jemand eine schnelle Entscheidung von mir will, erbitte ich mir erstmal eine Pause.
Du kannst zum Beispiel sagen: „Das ist eine gute Frage. Ich muss darüber kurz nachdenken und komme auf dich zurück.“
3️⃣ Akzeptiere dich, wie du bist.
Dies ist der wichtigste Punkt überhaupt! Lerne zu verstehen, wer du bist und was du brauchst, damit du aufblühen kannst. Zur Selbstakzeptanz gehört auch, dass du deine Stärken ausspielst. Wenn du gut schreiben kannst, dann mach das!
Wenn du im Gespräch zu langsam warst, um deine Idee einzubringen, dann ärgere dich nicht über dich. Schreibe stattdessen einen Nachtrag.
Oder du gewöhnst dir an, in Meetings statt langer Redebeiträge Lob zu spenden: „Sarah, ich fand deine Idee zu Thema X sehr interessant. Ich habe auch noch eine Idee dazu. Darf ich sie dir später per Mail senden?“
Schreiben: die geheime Superkraft im Job
Aber genug von den Dingen, die uns manchmal schwerfallen. Konzentrier dich stattdessen jetzt noch einen Moment auf deine Stärken! Schreiben ist eine geheime Superkraft für Introvertierte. Und du kannst sie im Berufsalltag hervorragend für dich nutzen.
Wir leben in einer Zeit, in der soziale Medien und digitale Kommunikation weit verbreitet sind. Die schriftliche Kommunikation ist heute weniger formell als früher, doch bedeutet das nicht, dass sie weniger wichtig ist. Im Gegenteil, deine Schreibfähigkeiten sind wertvoller denn je.
Wusstest du, dass gute schriftliche Kommunikation eine wichtige Kompetenz effektive Führungskräfte ist? Introvertierte haben hier einen Vorteil. Denn Schreiben erfordert eine gute Beobachtungsgabe und Klarheit. Wenn wir unsere Gedanken und Ideen in vollständigen Sätzen formulieren, werden wir zur Klarheit gezwungen.
Nie zuvor war es so wichtig, zeitnah und transparent Informationen weiterzugeben. Und wie macht man das heutzutage? Richtig, durch geschriebene Mitteilungen. Produktive Führungskräfte müssen ihre schriftliche Kommunikation klar, einfach und transparent halten. Sie müssen auf mögliche Bedenken eingehen und eine Richtung vorgeben. Wenn sie das nicht tun, zieht das viele unnötige Meetings und Gespräche nach sich, die viel Zeit und Energie kosten.
⚠️ Während schlechte schriftliche Kommunikation Zweifel an der Führungskompetenz aufkommen lässt, verschafft effektives Schreiben introvertierten Führungskräften Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Respekt.
Gelungene Kommunikation trägt zu psychologischer Sicherheit und einer höheren Zufriedenheit am Arbeitsplatz bei. Das bedeutet, wenn die Beziehungsebene stimmt, fühlen wir und unsere Teammitglieder uns als die Personen gesehen und anerkannt, die wir sind.
Wenn du eine wertschätzende und zugewandte Kommunikation herstellen kannst, obwohl du dein Gegenüber nichtmal sehen kannst – dann beherrschst du eine wahre Kunst, die in unserem digitalen Zeitalter von großem Wert ist.
🚀 So wird Schreiben zu deiner persönlichen Superkraft im Beruf:
- Drücke dich klar und schnörkellos aus. Deine Nachricht sollte klar und präzise formuliert sein. Vermeide dabei unnötigen Fachjargon oder Fachbegriffe, die deine Mitarbeitenden möglicherweise nicht auf Anhieb verstehen.
- Kommuniziere digital positiver, als du es im persönlichen Gespräch tun würdest. Warum? Untersuchungen haben ergeben, dass positive E-Mails neutral gelesen werden. Und neutral verfasste E-Mail sogar negativ.
- Reichere deine Nachrichten durch nonverbale Signale an. Nonverbale Signale gehen im Schriftlichen verloren, weil wir einander nicht sehen und hören können. Darum kommt es zu mehr Missverständnissen. Durch Emojis, Gifs oder Tapbacks (bei Messengern) können wir das ändern. Im professionellen Kontext sind sie längst angekommen und viele Remote Teams wollen gar nicht mehr ohne. Falls du unsicher bist, ob Emojis in deiner Branche akzeptiert sind, probier es erstmal aus. Wenn du „Danke“ schreibst, stelle ein „:)“ hintenan.
- Verwende aktive Sprache. Aktive Sprache sendet Ich-Botschaften und rückt die handelnden Personen in den Mittelpunkt. Passive Sprache hingegen klingt kühl und umständlich.
- Begründe dein Vorgehen. Stell Sie sicher, dass die Gründe für die Nachricht und die damit verbundenen Entscheidungen klar vermittelt werden, um mögliche Missverständnisse oder Verwirrung zu vermeiden. Stell außerdem sicher, dass es möglich ist, Feedback zu geben und Fragen zu stellen, um eine offene und transparente Kommunikation zu ermöglichen.
Durch diese Anregungen kannst du dazu beitragen, eine offene und positive Kommunikationskultur zu fördern, die das Engagement im Team fördert und das Vertrauen in die Führungsebene stärkt. Wenn das mal keine Superpower ist!
Zum Schluss:
Es ist übrigens auch völlig legitim, einfach mal drauflos zu reden. Deine Kolleg:innen tun das doch auch. Verfeinern kann man später gemeinsam. Also sei mutig und probier’s mal! Und denk immer daran, dass du gut so bist, wie du bist.
Tipp: Wenn du dein Selbstvertrauen stärken möchtest und Lernen willst, dich mit allen Ecken und Kanten anzunehmen – schau doch mal in unser neues Buch hinein! Es heißt: „Warum du nicht perfekt sein musst“ und ist überall im Buchhandel beziehbar.
Erfolg muss nicht laut sein!
👉 Erfolg muss nicht laut sein, das ist das Motto unseres Podcasts Still & Stark.
Still & Stark ist der Karriere-Podcast für alle zurückhaltenden Menschen, die authentisch erfolgreich sein wollen – ohne sich für unsere laute Business-Welt zu verbiegen! Als systemische Business Coaches entwickeln wir Konzepte und Strategien für Unternehmen und Führungskräfte. Unsere Methoden haben schon tausenden introvertierten Menschen geholfen, sicherer im Berufsleben aufzutreten und ihre einzigartigen Stärken zu entfalten.
Viel Freude beim Hören wünschen
Timon und Melina Royer! ✨
Quellen:
1: Elinor Amit, Caitlyn Hoeflin, Nada Hamzah, Evelina Fedorenko: An asymmetrical relationship between verbal and visual thinking: Converging evidence from behavior and fMRI, 2016, https://doi.org/10.1016/j.neuroimage.2017.03.029
2: Lieberman, M. D. (2000). Introversion and working memory: Central executive differences. Personality and Individual Differences, 28(3), 479–486. https://doi.org/10.1016/S0191-8869(99)00113-0
Schlagwörter: Achtsamkeit / Arbeit / Introversion / introvertiert / Job / mentale Gesundheit / Persönlichkeit / Schüchternheit / Selbstmanagement / Selbstvertrauen / sensibel / Sensibilität
Das ist genau mein Thema. Wie oft habe ich mir schon in den Hintern gebissen, weil ich bei Meetings den Mund nicht aufbekommen habe – aus lauter Unsicherheit und Sorge, falsch verstanden zu werden.
Gerade wenn es um brisante oder schwierige Themen wie Politik, Religion, Corona oder sogar Ernährungsformen geht, bei denen Diskussionen ganz schnell sehr hitzig werden, halte ich mich lieber raus. Die einzige Form, in der ich diese Themen diskutiere, ist tatsächlich schriftlich in Foren. Verbal rede ich über sowas nur mit mir wirklich vertrauten Menschen, und dann am liebsten 1:1.
Ich hatte das auch schon in der Schule und würde mir da wirklich wünschen, dass mündliche und schriftliche Beteiligung eher nach Neigung und Veranlagung der Schüler*innen bewertet würde und nicht nach bestimmten Prozentzahlen.
Wissenschaftsfolgen finde ich top, bitte mehr davon!
Und ich würde mir mal was dazu wünschen, wie aufhören kann, sich für seine Emotionen und Bedürfnisse zu schämen. :(
Geht das anderen hier auch so?
Vielen Dank für diesen Beitrag. Diese Frage ist mir auch schon länger durch den Kopf gegangen. Ich habe mich auch immer geschämt nichts zu sagen oder gesagt zu haben und dann Sätze wie “ja sag doch auch mal was” oder ähnliches zu hören zu bekommen. Ich denke lieber gründlich über meine Worte nach und wähle lieber mit bedacht als überstützt zu antworten. Ich habe mich immer geärgert darüber und andere bewundert. Es anders zu sehen, darauf bin ich nicht gekommen. In Gesprächen ohne Nachbesprechung ist es natürlich nicht möglich nochmal einen Einwurf in Schrift zu bringen. Aber der Satz kann hilfreich sein. Ich danke dir für deinen Beitrag.
Interessanter Beitrag mit tollen Tipps. Da habe ich mich auch wiedergefunden. Ich drücke mich auch sehr gerne durchs Schreiben aus. Lange Gespräche oder Diskussionen zu führen, strengen mich eher an. Insgesamt wirklich eine tolle Webseite, die ihr da habt, mit wichtigen Themen.
Vielen Dank für dein schönes Feedback, liebe Sarah!
Fühle mich von diesem Beitrag sehr verstanden. :-) Wenn ich rede, habe ich oft das Gefühl, dass alles total durcheinander ist, weil ich alles gleichzeitig denke; aber wenn ich schreibe, habe ich genügend Zeit, es in eine lineare Form zu bringen – und es hört eben auch niemand “live” zu, der mir dann leid tut, weil das, was ich sage, so chaotisch ist. ;-) Danke für diesen Artikel und eure tolle Arbeit generell!